zur Eröffnung der Ausstellung “Verwoben” mit Yunna Kim, GEDOK Stuttgart, März 2025
Die Arbeiten der beiden Künstlerinnen Yunna Kim und Mirjam Widmann haben erstaunlich viele Berührungspunkte, sie sind regelrecht und ganz wunderbar gedanklich miteinander verwoben, obwohl die beiden Künstlerinnen ganz unabhängig voneinander arbeiten und allenfalls in regem, interessiertem Austausch bleiben. Die augenfälligste Gemeinsamkeit ist wahrscheinlich ihre absolute Hinwendung zur reinen Linie, diesem phänomenalen bildnerischen Mittel, das so lange im Dienste der Figuration stand, dass sich selbst heutige Sehgewohnheiten noch manches Mal schwertun, die Linie als Protagonistin im Bild anzuerkennen. Umso intensiver ist die Wirkung dieses nur scheinbar schnöden Strichs, wenn die Annäherung denn gelingt.
„Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie)“, so beginnt Paul Klee in den 1920 Jahren die Beschreibung einer kleinen Reise mit bildnerischen Mitteln. Und weiter: „Nach kurzer Zeit Halt, Atem holen (unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie). Rückblick, wie weit wir schon sind (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel). Ein Fluß will hindern, wir bedienen uns eines Bootes (Wellenbewegung). Weiter oben wäre eine Brücke gewesen (Bogenreihe). Drüber treffen wir einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo größere Erkenntnis zu finden. Zuerst vor Freude einig (Konvergenz), stellen sich allmählich Verschiedenheiten ein (selbständige Führung zweier Linien).“
Wie erstaunlich kommunikativ und flirrend lebendig erscheint uns hier mit einem Mal die Linie. Sie ist fluide und dynamisch, führt bestenfalls zur Erkenntnis und verhält sich zu anderen Linien selbständig und/oder geht mit ihnen Hand in Hand. Und schon sind wir mitten drin in den Werken von Yunna Kim und Mirjam Widmann.
Denn bei beiden Künstlerinnen hat sich die Linie aufs Schönste verselbständigt. Sie wandert, mäandert und schlendert über die Bildgründe, als wäre sie ein atmendes, denkendes, suchendes Wesen. Der simple Strich, die reduzierte, von allem bereinigte, heruntergebrochene Essenz der Malerei lädt uns Betrachter*innen ein zum poetischen Stelldichein und offeriert uns eine wahre Kaskade an Assoziationen. Wie kann das sein, dass das eigentlich Spröde hier so funkelt?
Von Mirjam Widmann sehen wir Arbeiten aus zwei – im wahrsten Wortsinn – großen Werkgruppen. „bold 2“ wirkt aus der Ferne seltsam flächig, wie ein zarter Stoff, hier heller, da dunkler schattiert, so als würde der Wind sacht darunter fahren. Umso verblüffender ist hier die Nahsicht, denn die Künstlerin hat das Gewebe aus unzähligen von Hand gezeichneten kleinen Dreiecken mit Kugelschreiber quasi gestrickt. Sisyphos hätte seine Freude, Buddha wahrscheinlich auch, zumindest haftet dem Prozess etwas durchaus Meditatives an. Es geht Mirjam Widmann weniger um das große Ganze, als vielmehr um den Weg dahin, Dreieck für Dreieck, Linie für Linie. Die Versuchsanordnung orientiert sich am Schema des Rasters, dessen strenge Einheitlichkeit Widmann aber nonchalant bricht. Unregelmäßigkeiten schleichen sich ins Bild, Irregularitäten, vage seismographisch bildet sich der Künstlerin Befinden im Bild ab. Bild und Künstlerin sind untrennbar verwoben. Und ist die Linie für Wassili Kandinsky, einen der wohl prominentesten Befreier der Linie, „die Spur eines sich bewegenden Punktes“, so kann sie heute durchaus auch eine Spur zurück zur Körperlichkeit der Künstlerin sein. Diese konkrete Körperlichkeit übrigens mündete bei Widmann im Automatismus. Zu perfekt konnte Widmanns Körper die Dreiecke irgendwann reproduzieren, ein neues Experimentierfeld musste her. Für „bend“ nahm die Künstlerin einen Borstenpinsel mit einem Nachfülltank für Tusche und zog Linie um Linie über ein riesenhaftes Papier. Die ins Bild gerutschten Verwacklungen hat Widmann wiederholt, so dass sich die Ausschläge Linie für Linie verstärkten. Der trockene Pinsel warf Schatten, nachgefüllt intensivierten sich die Linien. Und nun stehen wir Betrachter*innen vor diesen sich ins Dreidimensionale schichtenden Absätzen, die sich ins Bild hinein und zugleich aus dem Bild heraus wölben. Die landschaftlich sich entfalten oder architektonisch sich staffeln, die alles sein können oder auch nichts, reine Form. Auf jeden Fall aber ist das Bild groß genug, um sich zu verlieren, es mit Schritten und Blicken immer wieder neu zu erwandern und mit jeder neuen Perspektivverschiebung verändert sich vage auch die Bildwirklichkeit.
Während ihres akademisch geprägten Studiums der Kunst in Korea lernte Yunna Kim durch zigfache Wiederholung die perfekte Linie zu ziehen. Oder sagen wir akademisch perfekt, gerade, zielstrebig. Ein Tremor schließlich durchkreuzte diese Perfektion und so machte Yunna Kim das leichte Zittern ihrer Hände zum Material. Sie füllte mit Kugelschreiber Blatt um Blatt mit seismographisch bebenden Linien, verliebte sich in die Irregularitäten und interessierte sich mehr und mehr für die Räumlichkeit, die sich hinter den intensiven Linienkaskaden plötzlich und überraschend öffnete. Ein Meer aus Linie, Leere, Stille und Poesie. Heute hat die Künstlerin ihren Tremor weitgehend im Griff, der – im besten Sinne unvollkommenen – Linie aber blieb sie treu. So zeigt Kim Arbeiten, die sich nicht nur optisch, sondern tatsächlich verwegen in den Raum hineinwölben. Dafür baut die Künstlerin meist umraumbezogene, aber durchaus intuitive Unterkonstruktionen aus Gips und/oder Modelliermasse, die sie als gezielte Setzungen im Ausstellungsraum anbringt. Dem allein schon haftet etwa stark Assoziatives an, etwas Organisches, Körperliches, Architektonisches, Landschaftliches. Die Linien sind hier nicht gerade gezogen, sondern kreiseln und kräuseln sich um die Gipfel und Erhebungen der dreidimensionalen Formen. Diese Kreisbewegungen sind ursprünglich dem Material Kugelschreiber geschuldet, der – das kennen Sie bestimmt auch – diese schmierenden Farbnasen an der Mine bildet, wenn man ihn einseitig verwendet. So rollt ihn die Künstlerin immer um sich selbst – auch hier klatschen sich Sisyphos und Buddha begeistert ab – und sie führt die Technik selbst bei der Verwendung von Kohle und Graphit weiter. Das Ergebnis hat etwas herrlich Haariges, auf jeden Fall Gewachsenes, unvorstellbar Feines und zugleich pointiert Verdichtendes. Es sind Strukturen, sie sich selbst hinterfragen und es ist, als würde die spezifische Technik den 3D-Formen unvollkommenes, wucherndes, eigenwilliges Leben einhauchen.
Tatsächlich haben Yunna Kim und Mirjam Widmann auch diese übergeordnete Vorgehensweise gemeinsam: Ihr Ausgangspunkt ist das Material, ihre Herangehensweise ist experimentell, aber mit dem eigenen Selbst verwoben, ihre Mittel sind rein abstrakt. Sie lassen sich von ihren Ergebnissen selbst überraschen und dann lassen sie ihre Kunst frei. Die tritt uns Betrachter*innen dann ganz unbeschwert, aber randvoll mit poetisch funkelnden Möglichkeiten entgegen. Mehr kann man sich von Kunst eigentlich gar nicht wünschen.